3
Es war Dienstag Nachmittag. In der Seitentür zum Garten stand Miss Arundell und warf Bobs Ball über den Kiesweg. Der Terrier stürmte hintendrein und brachte ihn zurück. Sie hob ihn auf und ging ins Haus zurück; Bob folgte ihr auf den Fersen. Im Salon legte sie den Ball in eine Schublade. Dann warf sie einen Blick auf die Kaminuhr. Es war halb sechs.
Die alte Dame stieg, von Bob begleitet, in ihr Schlafzimmer hinauf und legte sich auf das große, chintzbezogene Sofa. Der Hund ließ sich zu ihren Füßen nieder. Sie seufzte. Morgen würden ihre Gäste wegfahren, und das war gut so; nicht weil dieser Besuch ihr etwas offenbart hatte, was sie nicht schon längst wusste, sondern weil er sie nicht hatte vergessen lassen, was sie wusste.
«Ich werde alt…», sagte sie sich. Dann, überrascht: «Ich bin alt…»
Mit geschlossenen Augen lag sie eine halbe Stunde, bis die alte Haushälterin Ellen das Abendessen ankündigte; sie stand auf und kleidete sich um.
Dr. Donaldson war eingeladen worden. Emily Arundell wollte Gelegenheit haben, ihn aus der Nähe zu betrachten. Sie konnte sich noch immer nicht an den Gedanken gewöhnen, dass die exotische Theresa diesen ziemlich hölzernen Pedanten heiraten wollte. Nicht weniger verwunderlich war es, dass dieser pedantische junge Mann Theresa heiraten wollte.
Im Verlauf des Abends erkannte sie, dass sie noch immer nicht zu einem abschließenden Urteil über Dr. Donaldson gelangen konnte. Er war ausgesucht höflich, sehr förmlich und, nach ihrer Ansicht, unendlich langweilig. Miss Peabody hatte recht gehabt. «Zu unserer Zeit waren die jungen Herren von anderem Schlag…»
Dr. Donaldson blieb nicht lange. Um zehn Uhr verabschiedete er sich. Gleich darauf erklärte Miss Arundell, dass sie zu Bett gehe. Ihre jungen Verwandten begleiteten sie ins obere Stockwerk. Alle schienen heute Abend ein wenig bedrückt zu sein. Miss Lawson blieb im Erdgeschoss und sah nach dem Rechten, ließ Bob ins Freie, schürte das Feuer, stellte das Schutzblech vor und schlug den Teppich vom Kamin zurück, damit kein Funke darauf fiel. Ein wenig außer Atem erschien sie fünf Minuten später im Schlafzimmer der alten Dame.
«Ich glaube, ich habe nichts vergessen», sagte sie und legte die Strickwolle, den Arbeitsbeutel und einen Leihbüchereiband auf ein Tischchen. «Hoffentlich gefällt Ihnen das Buch. Das Fräulein in der Bibliothek hat es mir ausdrücklich empfohlen.»
«Sie hat den unmöglichsten Geschmack, der mir je untergekommen ist. Nun, dafür können Sie nichts.» Freundlicher setzte sie hinzu: «Haben Sie Ihren freien Nachmittag schön verbracht?»
Miss Lawsons Gesicht erhellte sich und wirkte fast jugendlich. «Oh, es war großartig. Wir versuchten es mit der Geisterschrift und erhielten mehrere Botschaften… Hochinteressant! Natürlich ist das nicht dasselbe wie die richtigen Séancen… Julia Tripp hatte großen Erfolg mit der automatischen Schrift. Einige Botschaften aus dem Jenseits… Julia und Isabel Tripp sind wirklich durch und durch vergeistigt.»
«Fast zu vergeistigt zum Leben», meinte Miss Arundell. Sie hatte für die Schwestern Tripp nicht viel übrig; ihre Kleider kamen ihr lächerlich vor, ihre Rohkostdiät unsinnig und ihre Manieren geziert. Aber sie missgönnte der armen Minnie das Vergnügen nicht, das ihr diese Freundschaft offenbar verschaffte.
Arme Minnie! Miss Arundell sah ihre Gesellschafterin halb zärtlich, halb verächtlich an. Sie hatte in ihrem Leben so viele alberne Frauenzimmer mittleren Alters um sich gehabt, und alle waren sie ebenso gutherzig, schusselig, ergeben und hirnlos gewesen.
Minnie war heute Abend sehr aufgeregt. Ihre Augen leuchteten. Fahrig lief sie im Zimmer hin und her, ohne zu wissen, was sie tat, und begann endlich zu stammeln:
«Ich – ich – schade, dass Sie nicht dabei waren… Ich weiß, Sie glauben nicht daran. Aber heute kam eine Botschaft – für E. A. Die Initialen waren ganz deutlich. Sie stammten von einem Mann, der vor vielen Jahren gestorben ist – einem gut aussehenden Offizier –, Isabel sah ihn ganz deutlich. Das muss der selige General Arundell gewesen sein. Und die Botschaft war so schön, voll Zärtlichkeit und Trost, und dass durch Geduld alles zu erreichen ist.»
«Das klingt ganz und gar nicht nach Papa», meinte die alte Dame trocken.
«Oh, unsere Angehörigen verändern sich doch so – drüben. Alles ist Liebe und Verständnis. Und dann schrieb die Planchette etwas von einem Schlüssel – ich glaube, dem Schlüssel zum Boule-Schrank – kann das stimmen?»
«Den Schlüssel zum Boule-Schrank?», fragte Miss Arundell, plötzlich aufmerksam geworden.
«Ja. Und da dachte ich mir, vielleicht handelt es sich um wichtige Schriften oder dergleichen. Es gibt einen beglaubigten Fall, wo eine Botschaft kam, man solle in einem bestimmten Möbelstück nachsehen, und tatsächlich wurde dort ein Testament entdeckt.»
«In unserem Boule-Schrank war kein Testament.» Plötzlich setzte Miss Arundell hinzu: «Gehn Sie schlafen, Minnie! Sie sind müde. Ich auch. Wir werden die Schwestern Tripp mal zum Abendessen einladen.»
«Oh, das wäre wundervoll! Gute Nacht, meine Liebe! Haben Sie alles, was Sie brauchen? Hoffentlich haben die vielen Gäste Sie nicht zu sehr ermüdet. Ich muss Ellen sagen, dass sie morgen im Salon gut lüftet und die Vorhänge aufschüttelt, damit der Rauch hinausgeht.»
«Gute Nacht, Minnie!»
Allein geblieben, überlegte Miss Arundell, ob diese spiritistischen Sitzungen Minnie nicht etwa schlecht bekamen; sie war so erregt und zerfahren gewesen.
Die Sache mit dem Boule-Schrank war merkwürdig, dachte sie, während sie zu Bett ging. Ein grimmiges Lächeln trat auf ihre Lippen, als sie sich an den längst vergangenen Vorfall erinnerte. Der Schlüssel war nach Papas Tod gefunden worden, und als man den Schrank aufgesperrt hatte, waren unzählige Kognakflaschen zum Vorschein gekommen! Aber gerade solche Kleinigkeiten konnten weder Minnie Lawson noch die Schwestern Tripp wissen, und man musste sich fragen, ob nicht doch etwas an diesem Spiritismus war…
Schlaflos lag sie in ihrem Himmelbett, aber von einem Schlafmittel wollte sie nichts wissen, hatte sie nie etwas wissen wollen. Das war für Schwächlinge und Wehleidige. Oft, wenn sie keinen Schlaf fand, stand sie wieder auf und ging lautlos durchs Haus, nahm ein Buch zur Hand, rückte die Nippfiguren zurecht, ordnete die Blumen in einer Vase anders oder schrieb einige Briefe. In diesen Mitternachtsstunden hatte das Haus für sie etwas Lebendiges. Diese nächtlichen Streifzüge waren ihr nicht unwillkommen. Es war, als begleiteten sie die Schatten ihrer Schwestern Arabella, Matilda und Agnes; der Schatten ihres geliebten Bruders Thomas, wie er war, bevor er «dieser Person» in die Klauen geriet; sogar der Schatten General Arundells, des Haustyrannen mit den bezaubernden Umgangsformen, der seine Töchter anbrüllte und unterdrückte und auf den sie trotzdem immer unbändig stolz gewesen waren. Was spielte es für eine Rolle, dass es Tage gegeben hatte, wo er sich «nicht ganz wohl fühlte», wie die Töchter es beschönigend genannt hatten?
Sie musste wieder an den Bräutigam ihrer Nichte denken. «Der wird wohl nie trinken! Nennt sich einen Mann und trinkt Sirup bei Tisch! Und ich hatte eine Flasche von Papas Portwein geöffnet!»
Charles hatte dem Portwein gebührend Ehre erwiesen. Oh, wenn man Charles nur trauen könnte! Wenn man nicht wüsste, dass er…
Ihre Gedanken schweiften ab; sie ließ die letzten Tage im Geist an sich vorüberziehen. Irgendetwas, sie wusste nicht was, beunruhigte sie leise…
Miss Arundell setzte sich auf und sah beim Schein des Nachtlichts, dass es ein Uhr war. Ein Uhr, und sie hatte nicht die geringste Lust zu schlafen. Sie stand auf, fuhr in die Pantoffeln und hüllte sich in ihren warmen Schlafrock, um ins Erdgeschoss zu gehen und die Einkaufsbücher abzuschließen, damit sie morgen die Rechnungen bezahlen konnte.
Wie ein Schatten glitt sie aus dem Zimmer über den Flur, wo die ganze Nacht eine kleine Lampe brannte. Sie ging zur Treppe, streckte die Hand nach dem Geländer aus, und dann stolperte sie unerklärlicherweise, versuchte vergeblich, sich im Gleichgewicht zu halten, und fiel kopfüber die Stufen hinunter. Der Lärm des Sturzes, der Schrei, den sie ausstieß, weckte das ganze Haus. Türen öffneten sich, Lichter flammten auf. Miss Lawson schoss aus ihrem Zimmer neben dem Treppenabsatz. Mit fassungslosen, schrillen Rufen hastete sie die Stufen hinunter. Nacheinander tauchten die anderen auf, Charles gähnend, in einem extravaganten Schlafrock; Theresa in dunkler Seide; Bella in marineblauem Kimono, den Kopf voll Lockenwickler.
Benommen und verwirrt lag Miss Arundell zusammengekauert auf den Dielen. Die Schulter und der Knöchel taten ihr weh – ihr ganzer Körper krümmte sich vor Schmerz. Es kam ihr zum Bewusstsein, dass Menschen neben ihr standen, dass die alberne Minnie weinte und zwecklose Gebärden machte; sie gewahrte den betroffenen Ausdruck in Theresas dunklen Augen und sah Bella, die mit offenem Mund dastand; sie hörte Charles wie von fern sagen:
«Der verfluchte Ball! Der Hund muss ihn liegen gelassen haben, und sie stolperte darüber. Seht ihr? Hier ist er!»
Und dann spürte sie, dass ein Sachverständiger neben ihr kniete und sie mit sicheren Griffen untersuchte. Welche Erleichterung!
Dr. Tanios sagte fest und beruhigend: «Nein, nichts ist geschehen. Nichts gebrochen… Nur der Schock und ein paar Schrammen. Sie hat Glück gehabt.»
Er hieß die Umstehenden zurücktreten, hob die alte Dame behutsam auf und trug sie in ihr Schlafzimmer hinauf, wo er eine Minute lang ihre Pulsschläge zählte. Dann nickte er und beauftragte Minnie, die noch immer weinte und dauernd im Weg stand, Kognak und eine heiße Wärmflasche zu holen.
Miss Arundell war Tanios in diesem Augenblick sehr dankbar. Sie fühlte sich benommen, zerschlagen und von Schmerzen gequält, und es tat wohl, sich in geschulten Händen zu wissen. Er flößte Sicherheit und Vertrauen ein, wie man es von einem Arzt erwartete.
Aber etwas anderes – irgendetwas, das ihr nicht einfallen wollte, beunruhigte sie, doch sie beschloss, jetzt nicht darüber zu grübeln. Sie wollte trinken, was er ihr reichte, und dann einschlafen, wie er ihr riet.
Aber irgendetwas war nicht da – irgendwer…
Sie schloss die Augen und hörte noch Dr. Tanios mit beruhigender Stimme sagen: «Alles in Ordnung!», dann schlief sie ein.
Ein wohl bekannter Laut weckte sie, ein leises, gedämpftes Bellen. Im nächsten Augenblick war sie völlig wach.
Bob, der Strolch! Er bellte gedämpft vor der Haustür: «Habe die ganze Nacht gebummelt und schäme mich sehr», hieß dieses Bellen, und hoffnungsvoll wiederholte er es immer wieder.
Miss Arundell lauschte. Ja, nun lief Minnie schon die Treppe hinunter, um ihn einzulassen. Sie hörte die Haustür knarren, verworrenes Murmeln und Minnies zwecklose Vorwürfe: «Du schlimmes Hundchen, du – schlimmer Bobsy – », dann wurde die Tür zum Abstellraum geöffnet, wo Bob sein Körbchen hatte.
Und in diesem Augenblick erinnerte sich Miss Arundell plötzlich, was sie vermisst hatte, als sie die Treppe hinuntergestürzt war. Bob! Der Lärm – der Sturz – die herbeieilenden Menschen –, das alles hätte Bob mit lautem Gekläff aus dem Abstellraum begleitet.
Das also hatte sie so beunruhigt, ohne dass sie sich dessen bewusst geworden war! Aber jetzt war es erklärt: Bob war, nachdem er gestern Abend ins Freie gelassen worden war, die ganze Nacht nicht nachhause gekommen. Solche Abweichungen vom Weg der Tugend kamen bei ihm von Zeit zu Zeit vor, obwohl seine nachträgliche Zerknirschung nichts zu wünschen übrigließ.
Es war in Ordnung. Aber war es wirklich in Ordnung? Was ließ sie immer noch grübeln und bohrte in ihrem Unterbewusstsein? Ihr Unfall – etwas, das mit ihrem Unfall zusammenhing.
Ah, richtig, jemand hatte gesagt – Charles hatte gesagt –, dass sie wegen des Balls ausgeglitten sei, den der Hund auf der obersten Stufe liegen gelassen hatte. Charles hatte den Ball in der Hand gehalten und vorgewiesen… Miss Arundells Kopf glühte. In der Schulter saß ein nagender Schmerz. Der ganze Körper tat ihr weh, aber trotzdem war ihr Verstand klar und scharf. Der Schock war vorbei, und sie erinnerte sich deutlich an alles.
Sie rief sich alle Einzelheiten des vergangenen Abends ab sechs Uhr ins Gedächtnis… Sie ging Schritt für Schritt zurück bis zu dem Augenblick, wo sie vor der obersten Stufe gestanden hatte, um die Treppe hinunterzugehen…
Ungläubiges Entsetzen durchfuhr sie. Sie musste – musste sich irren. Man hatte manchmal nach einem Unfall solche Wahnideen. Sie versuchte angestrengt, sich an den glitschigen runden Ball unter ihrem Fuß zu erinnern – und konnte sich nicht erinnern. Statt dessen…
«Das sind nur die Nerven», sagte sie sich. «Lächerliche Einbildung!»
Aber ihr gesunder, untrüglicher Menschenverstand widersprach, bis ihr nichts anderes übrigblieb, als die furchtbare Wahrheit zu glauben.